Marina Bruggmann

Zwischen Schmerz und Mitgefühl – meine Begegnung mit «Friedas Fall»

Im Sommer habe ich den Film «Friedas Fall» im Open-Air-Kino gesehen, und er hat mich tief berührt. Eine Kollegin empfahl mir das Buch dazu – und sie hatte recht. Michèle Minellis Roman erzählt das Schicksal der jungen Schneiderin Frieda Keller, die um 1900 in St. Gallen lebte. Als die Leiche ihres kleinen Sohnes gefunden wird, gesteht Frieda, ihr Kind getötet zu haben. Was wie ein Verbrechen wirkt, entpuppt sich als Geschichte voller Leid, Ohnmacht und gesellschaftlicher Verurteilung.

Frieda wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und gerät als junge Frau in die Abhängigkeit eines Mannes, der seine Macht über sie ausnutzt. Was die Gesellschaft damals als «Verführung» bezeichnete, würde man heute wohl als sexuelle Ausbeutung sehen. Zurückgelassen und schwanger wird Frieda von der Gesellschaft geächtet. Ohne Unterstützung kämpft sie ums Überleben und verliert dabei jede Hoffnung. Als ihr Sohn stirbt – ob durch ihre Hand oder nicht, bleibt offen –, übernimmt sie die Schuld. Ihr Geständnis wirkt weniger wie ein Schuldeingeständnis als wie der Ausdruck tiefer Verzweiflung.

Der anschliessende Prozess zeigt die Ungerechtigkeit jener Zeit: Männer bestimmen über Moral und Recht, während Frauen kaum eine Stimme haben.

Minelli beschreibt mit grosser Empathie, wie eng persönliche Schuld und gesellschaftliche Verantwortung miteinander verwoben sind.

Mich hat besonders berührt, wie feinfühlig die Autorin Friedas innere Zerrissenheit beschreibt – zwischen Liebe, Scham und Verzweiflung. Man spürt beim Lesen die Kälte einer Gesellschaft, die schnell richtet, aber selten fragt, warum jemand zerbricht. «Friedas Fall» ist ein stilles, bewegendes Buch über Schmerz, Mitgefühl und menschliche Würde – und es regt noch lange zum Nachdenken an.