«Die schönsten Erzählungen»
22.05.2025 Kolumnen, Uttwil , Salmsach, RomanshornMargrit Stickelberger
«Die schönsten Erzählungen»
Lew Tolstoj, insel taschenbuch
Es ist eine alte Vorstellung, dass wir auf unserem Nachttisch ein Buch haben, in dem wir vor dem Einschlafen noch ein paar Seiten lesen. Früher gab es das «livre de chevet», das Kissenbuch, von dem man sich auch im Schlaf nicht trennen mochte. Bei mir liegen auf dem Nachttisch kaum Bücher, ich benütze vor dem Einschlafen das iPad zur vielfältigen Unterhaltung.
Wenn ich lese, tue ich das tagsüber oder am Abend, sitzend im Lehnstuhl oder am Küchentisch. Ich lese gerne Bücher, die mir meine Gedankenwelt erweitern und deren Inhalt ich gerne weitererzähle, weil er etwas in mir vertieft hat.
Aktuell sind das gerade Tolstois Erzählungen. Es sind kürzere und längere Geschichten, die Tolstoi erzählt, um mir etwas von den geheimnisvollen Möglichkeiten der Menschen zu zeigen. Etwa die Geschichte von Herr und Knecht, in der ein geldgieriger Gutsbesitzer seinen Knecht und sein Pferd antreibt, im Schneesturm weiterzufahren, auch wenn sie beide am Rand ihrer Kräfte stehen, weil er Angst hat, es könne ihm einer zuvorkommen bei dem Waldkauf, den er im Sinn hat.
Nachdem die drei sich mehrmals im Schnee verfahren haben und der Knecht ohne Kraft am Boden sitzt, legt der dicke Gutsbesitzer sich, ohne zu wissen, warum er das jetzt tut, über ihn und wärmt ihn so mit seinem Körper.
Das Wunderbare daran ist, dass der Autor hinter der Geschichte gänzlich verschwindet. Wir erfahren alles aus der Sicht der beiden handelnden Personen. Wie sie die Natur erleben, wie der Knecht mit den Mühen des Pferdes leidet und wie der Gutsherr sich gedanklich nur mit seinem erhofften Geldgewinn beschäftigt. Wir werden als Leser in diese Sichtweisen hineingezogen. Nur am Schluss ist der Autor präsent, wenn er uns die unbewusste Handlung des Herrn beschreibt, die ihm selbst den Tod bringt, dem Knecht aber das Leben rettet.