«Ich bin unendlich dankbar»
07.08.2025 Kultur&Natur, Romanshorn, UttwilAliye Gül, die Uttwiler Gemeindeschreiberin, ehemalige Stadträtin von Romanshorn und Kantonsrätin, hat am 6. Februar 2023 beim Erdbeben in der Südtürkei ihren Ehemann, ihre Wohnung und ihre Heimatstadt verloren. Anstatt in Schockstarre zu verharren, zog sie los, sammelte Geld und leistete Spontanhilfe vor Ort.
Zweieinhalb Jahre sind verstrichen seit der Katastrophe, die weite Gebiete der Südtürkei und Syriens brutal getroffen hatte. Aliye Gül hat Unglaubliches durchgemacht, kann heute aber besser mit der Situation umgehen und mit weniger Emotionen darüber reden, was in ihrer Heimatstadt Antakya passiert ist. Es bleiben ihr vor allem die schönen Erinnerungen an die Stadt, wie sie früher war. Hautnah erlebte sie beim letzten Besuch im Mai dieses Jahres, mit welchem Elan an der Zukunft der Stadt gearbeitet wird.
Zwar wirke alles sehr chaotisch, überall Baustellen, Staub. Die Stadt sei praktisch abgeschlossen. Tausende von Bauarbeitern von überall her arbeiten an der Infrastruktur.
Thema Erdbeben nicht mehr im Fokus – Solidarität aber spürbar
In der Schweiz sei die Katastrophe etwas in Vergessenheit geraten, meint Aliye Gül. Sie spüre aber weiterhin viel Solidarität und werde nach wie vor per Mail oder WhatsApp angesprochen. Zudem werde sie für Projekte und Vorträge angefragt, so von Lions Clubs oder Berufsfachschulen. Ihre Sammelaktion zugunsten der Erdbebenopfer brachte rund 80’000 Franken für die Spontanhilfe zusammen. Aliye Gül ist für die finanzielle Unterstützung aus der Schweiz, aus dem Thurgau und speziell Romanshorn und Uttwil unendlich dankbar und schmunzelt: «Die unterstützten Menschen wissen nun, wo Romanshorn, Uttwil und die Schweiz liegen.»
Sie werden zurückkehren
Aliye Gül ist überzeugt, dass die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner wieder in die Stadt, in die Region zurückkehren wird. Die Provinz Hatay sei eine einzigartige, freiheitliche, florierende Provinz gewesen, wo verschiedenste Ethnien friedlich zusammenlebten. War Aliye Gül im Moment der Katastrophe vom Einsatz der Rettungskräfte und Behörden etwas enttäuscht, äussert sie sich heute positiv über die Arbeit des Gouverneurs und die Hilfe aus Ankara. Mit provisorischen Containern, Wasser und Strom sind die Grundbedürfnisse der Menschen abgedeckt. Dennoch seien die Betroffenen – allein gebliebene Frauen, Jugendliche und Kinder – auf finanzielle Hilfe angewiesen. «Ich werde weiterhin finanziell unterstützen, zum Beispiel mit Sportkleidern und -artikeln für Kinder in den Containerschulen.» Die Baukosten für eine Wohnung oder ein Haus würden zur Hälfte vom Staat getragen, für den Rest würden zinslose Kredite über 20 Jahre vergeben. Die historischen Gebäude sollen gemäss Masterplan originalgetreu nachgebaut werden.
Aliye Gül selbst wird keine Wohnung mehr in Antakya kaufen. Sie hat das Vertrauen in die Qualität der vermeintlichen Baufachleute verloren, glaubte sie doch beim Kauf, dass ihr Haus erdbebensicher erstellt worden ist.
Markus Studerus